Tango tanzendes Paar in Buenos Aires

5 Tango-Wahrheiten

Auf Gespräche, die später in diesem Podcast veröffentlicht werden, bereite ich mich natürlich vor. Recherche und Zusammentragen von Themen bilden die Basis der Aufnahmen. Im Zuge der Recherchen zur Episode 36 habe ich beschlossen einiges auch als Blogbeittrag zu veröffentlichen. Das können Recherche-Ergebnisse sein, aber auch Hintergrundgeschichten zu den eingeladenen Gästen und zu den Aufnahmen.

Beitrag Nummer 1 beschäftigt sich erst einmal mit dem Kern des Podcasts, dem Tango Argentino. Lesen Sie fünf Fakten zum Tango, die Sie vielleicht noch nicht wussten.

Einleitung

Wenn Personen, die Tango Argentino nicht kennen, an Tango denken, kommen ganz gerne diese Bilder in den Sinn: glühende Leidenschaft, eine Rose zwischen den Zähnen, dramatische Posen in einem schummrigen Tanzlokal. Seien Sie jetzt ehrlich.

„Stimmt, das Bild bekomme ich auch nicht mehr aus meinem Kopf. Danke dafür!“

„Gerne.“

Diese Klischees verdecken aber die Geschichte dieser Kunstform. Der Tango ist weitaus tiefer, komplexer und überraschender, als es die gängigen Stereotypen vermuten lassen. Seine Geschichte ist ein faszinierendes Geflecht aus kulturellen Wanderungen, sozialen Umbrüchen und künstlerischen Revolutionen.

Dieser Beitrag beschreibt fünf Fakten zum Tango, die das klassische Bild in Frage stellen und vielleicht eine neue Perspektive auf diesen weltberühmten Tanz und seine Musik eröffnen werden.

1. Tango ist nicht gleich Tango

Die erste Wahrheit ist, dass „Tango“ nicht nur ein einzelner Stil ist, sondern eine musikalische Familie, die aus drei Hauptgenres besteht: Tango, Milonga und Vals.

Ein typisches Tango-Repertoire besteht zu etwa 80 % aus Tangos, während die restlichen 20 % zu gleichen Teilen aus Valses und Milongas bestehen. Der Vals (spanisch für Walzer) ist, wie der Name schon sagt, ein dem österreichischen Tanz verwandter Stil im 3/4-Takt. Die Milonga ist ein beschwingter, schneller Rhythmus im 2/4-Takt. Der Tango selbst wird heute im 4/4-Takt notiert, obwohl das historisch nicht immer so war (früher war es 2/4 oder 4/8-Takt).

Alle drei Genres haben ihre Wurzeln im Tanz, und haben nicht nach einem still sitzenden Publikum verlangt. Gut, wenn die Tango-Ikone Carlos Gardel gesungen hat, war das vielleicht anders, und Astor Piazzolla wollte ebenfalls, dass man seine Musik einfach hört, ohne sich gleichzeitig auf komplexe Körperbewegungen konzentrieren zu müssen.

„Aber im Film Tango Lessons tanzen die Hauptdarsteller doch zu Libertango von Astor Piazzolla?“

„Ja, auf der Bühne und in Filmen dürfen die das. In Milongas, also Veranstaltungen zum Tango-Tanzen, sind dagegen Piazzolla Tangos kaum zu hören.“

Obwohl das gesamte Tango-Genre mit afrikanischen Rhythmen verbunden ist, fehlt dem Tango-Orchester das Schlagzeug. Stattdessen übernehmen andere Instrumente wie Klavier, Bass und Gitarre die perkussive Rolle. Diese Erkenntnis enthüllt die rhythmische Vielfalt und die reichen musikalischen Verflechtungen des Tangos – eine komplexe Klangwelt, die weit über das hinausgeht, was man gemeinhin als „Tango“ kennt.

2. Das Herz des Tangos schlägt deutsch

Das Instrument, das wie kein anderes als die Seele des Tangoklangs gilt, hat eine unerwartete Herkunft. Das Bandoneon, dessen melancholische Töne die Essenz der Tangomusik ausmachen, stammt nicht aus Argentinien, sondern aus Deutschland. Diese wechseltönige Handharmonika wurde um 1845 in Deutschland vom deutschen Musiker und Musiklehrer sowie Instrumentenhändler Heinrich Band erfunden. Er hatte es aus der Konzertina entwickelt. Erst einmal hatte es Bandonion geheißen, und erfreute sich bald rund um Krefeld und dann in ganz Deutschland größter Beliebtheit.

„Keine Tasten, nur Knöpfe. Sicher nicht einfach zu spielen.“

„Fragen Sie mal Anfänger. Die Knopfbelegung ist noch dazu völlig erratisch. Dazu erzählt übrigens die Musikerin Ingrid Eder in Episode 13 mehr.“

Erst mit den Auswanderungswellen fand es seinen Weg an den Río de la Plata. Dieses deutsche Instrument, getragen von europäischen Auswanderern, wurde zur Stimme ihrer Sehnsucht in den Arrabales, aus denen der Tango hervorging – und zunächst verstoßen wurde. So wurde ein in Deutschland populäres Volksinstrument zur wehmütigen Stimme der Vororte von Buenos Aires, eine faszinierende Ironie der transkontinentalen Kulturgeschichte.

3. Ein Prophet im eigenen Land?

Der Tango entstand in den 1880er Jahren in den armen Einwanderervierteln (Arrabales) von Buenos Aires und Montevideo. Von der argentinischen Oberschicht wurde er zunächst als anrüchig, vulgär und unanständig abgelehnt. Kein Wunder, denn der frühe Tango galt als anrüchig und war die Musik der Bordelle und der Arbeiterklasse. Sein Schicksal änderte sich erst, als er den Atlantik überquerte.

Um 1912 wurde der Tango in Paris zur Sensation und löste eine regelrechte „Tangomanie“ aus. Die französische Presse war voll von Artikeln, und bald gab es kommerzielle Produkte wie Parfüm, Getränke, Damenunterwäsche und sogar der Zug nach Deauville, dem Badeort der Schickeria, trug den Namen „Tango“.

Erst dieser triumphale Erfolg in Europa machte den Tango für die Oberschicht in Buenos Aires salonfähig. Die Szene verlagerte sich vom Arrabal ins Zentrum, wo der Tango nun mit Glimmer und Luxus assoziiert wurde. Der einst verpönte Tanz wurde quasi als schicker Trend aus Europa re-importiert – eine bemerkenswerte Ironie, dass eine Kunstform im Ausland nobilitiert werden musste, um in ihrer eigenen Heimat wertgeschätzt zu werden.

Allerdings passierte in Europa auch die Trennung des Tango in Tango Argentino und dem Ballroom-Tango. Die konservative Oberschicht in Paris empfand den Tango Argentino als „wild“ und „anstößig“ und wollte eine weitere Verbreitung verhindern. 

„Gab’s da nicht sogar Tanzverbote in Europa?“

„Genau. Kaiser Wilhelm II., der König von Bayern und Kaiser Franz Joseph hatten ihren Offizieren in Uniform den Tanz verboten.“

Britische Choreografen passten den Tango Argentino stilistisch den gesellschaftlich akzeptierten Standardtänzen an. Das Ergebnis war der Internationale Tango, der seitdem keine wesentlichen Veränderungen mehr erfahren hat. Mehr dazu hören Sie in Episode 35 mit Balàsz Ekker und Alice Guschelbauer.

4. Der Klang der Krise

Die Popularität des Tangos in Europa erreichte ihre Höhepunkte auffälligerweise in Zeiten großer gesellschaftlicher Krisen. Eine Analyse von Musikveröffentlichungen im deutschsprachigen Raum zeigt zwei dramatische Ausschläge: einen ersten um 1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs, und einen zweiten, noch größeren, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre. Dies ist kein Zufall.

Die Themen des Tangos, der ursprünglich die Frustrationen und die Hoffnungslosigkeit der Menschen in den Einwanderervierteln zum Ausdruck brachte, fanden in den krisengeschüttelten Gesellschaften Europas einen starken Widerhall. In einer Zeit, in der das Individuum von überwältigenden, abstrakten Krisen wie Krieg und wirtschaftlichem Kollaps erfasst wurde, bot der Tango eine Sprache, die nicht vom Kollektiv, sondern vom Individuum sprach. Der Historiker José Gobello formulierte es treffend:

„Für den Tango existiert kein Volk als abstrakte Einheit oder als Ideal, der Tango kennt nur den Menschen aus Fleisch und Blut.“

José Gobello

„Der Tango war wohl in der Nazi-Zeit ebenfalls verboten?“

„Der Standard-Tango war durchaus erlaubt. Ansonsten war der Tango aber eher in den Ghettos zu hören, in denen sich jüdische Musiker aus verschiedenen osteuropäischen Regionen begegnet sind.“

Der Tango ist mehr als nur Unterhaltung; er ist eine Form des kulturellen Ausdrucks, die in schwierigen Zeiten Trost und menschliche Resonanz bietet.

Könnte das ein Grund sein für das aktuell verstärkte Interesse am Tango Argentino?

5. Der Erneuerer als Verräter

Heute gilt Astor Piazzolla (1921–1992) weltweit als einer der größten Erneuerer des Tangos. Doch sein Weg war steinig. Als der legendäre Pianist Arthur Rubinstein auf einer Tournee in Buenos Aires das Talent des jungen Piazzolla erkannte, riet er ihm zum Kompositionsstudium bei Alberto Ginastera, dem führenden argentinischen Komponisten. Dort studierte Piazzolla die Werke von Bartók und Strawinsky.

1944 verließ er das renommierte Orchester von Aníbal Troilo, um seinen eigenen Weg zu gehen, und begann, Elemente der klassischen Musik – Kontrapunkt, Fugen und neue Harmonien – in den traditionellen Tango zu integrieren. Für die etablierte Tango-Szene war dies ein Sakrileg. Sie warf ihm „Undankbarkeit und Verrat“ an der reinen Lehre vor.

1954 ging Piazzolla nach Paris, um bei Nadia Boulanger Komposition zu studieren. Beim ersten Vorspielen verschwieg er, dass er Tangos gespielt und komponiert hatte. Die Komponistin bestärkte ihn aber darin, bei seiner eigenen Variante von Tango-Musik zu bleiben.

In Folge hatte Piazzolla seinen revolutionären Stil, den Tango Nuevo, erschaffen. Die breite Anerkennung, nach der er sich so lange gesehnt hatte, erreichte er jedoch erst in den 1980er Jahren. Seine Geschichte ist ein klassisches Beispiel für den ewigen Kampf zwischen künstlerischer Innovation und Traditionalismus und den oft einsamen Weg, den visionäre Künstler gehen müssen.

„Welche Piazzolla-Stücke sollte man unbedingt kennen oder gehört haben?“

„Womit soll ich nur anfangen? Libertango, Cité Tango, Adios Nonino, Oblivion, Yo soy Maria, …“

Fazit

Vom vielfältigen musikalischen Repertoire über die deutsche Herkunft seines Seeleninstruments bis hin zu seiner komplexen Beziehung zur eigenen Heimat und seiner Rolle als Soundtrack für Krisenzeiten – der Tango ist eine vielschichtige Kunstform mit einer reichen und oft unerwarteten Geschichte.

Die Fakten zeigen, dass er weit mehr ist als die populären Stereotypen, die ihn umgeben. Er ist ein Spiegelbild globaler Migration, sozialer Spannungen und der unaufhörlichen Suche nach künstlerischem Ausdruck.

Im Podcast Cabeceo nähere ich mich mit verschiedensten Gespächspartner/innen dieser faszinierenden Kunstform an. Hören Sie in die Episoden hinein, und tragen Sie Ihre Meinung als Kommentar zu den Episoden ein.

„Danke für die Einladung. Ich komme sicher einmal dazu …“

„Nichts da, keine Ausrede. Beginnen Sie gleich jetzt mit Episode 1 und der Tänzerin Rosa Ginger Berg.“


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